Über die neue Demonstrationskultur, Zensur und Selbstzensur der Linken

je n’étais pas très bon élève
et je suis mauvais citoyen
mais j’ai ma chambre rue de rêve
et mon bureau rue de copain
Serge Reggiani – Rue de Rêve (Claude Lemesle/Alice Dona)

In einer Nachbetrachtung zur Demonstration der GegnerInnen der Regierungsmaßnahmen angesichts der Coronapandemie war auf dem website der Omas gegen Rechts – Berlin (https://www.omasgegenrechts-berlin.de/2020/08/01/protest-gegen-rechtsoffene-demo/) das Folgende zu lesen: „Es ziehen etliche Tausend aus der gesamten Bundesrepublik zusammengetrommelte Gegner*innen der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus durch die Berliner Innenstadt und viele von ihnen rufen genau dasselbe wie die wenigen Hundert Gegendemonstrant*innen, nämlich ,Nazis raus!‘ und schwenken bunte Fahnen mit Friedenssymbolen. Ich denke also, hey Leute, wunderbar! Wenn ihr alle gegen Nazis seid, tut euch doch einfach zusammen!“ Diesen Gedanken wird unterstellt, sie wären Leuten in den Sinn gekommen, die den Demonstrationszug von außerhalb beobachtet hätten.

Diese Außenstehenden (in Wirklichkeit Omas gegen Rechts) nehmen nun Rechtsradikale im Aufmarsch wahr, sowie dass deren Parolen nicht verhindert werden. Und sofort schnappt die Falle der Korrektheit zu: „Als die gedanklich außenstehende Beobachterin beginne ich also zu begreifen, in diesem Tausender-Zug sind mitnichten alle rechts oder rechtsextrem, aber die Demo ist rechtsoffen. Jene, denen wirklich nur einige der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus ein Dorn im Auge sind, grenzen sich gegen rechts nicht ab und Rechtsextreme nehmen das Steuer in die Hand. Klar, dass die OMAS GEGEN RECHTS zur Gegenkundgebung auf- und dann wütend rufen: ,Ihr marschiert mit Nazis und Faschisten!‘, wenn ihnen die vermeintlichen Friedensheld*innen zuwinken.“

Es sollte Linken mit einem Rest von Anstand und historischem und politischem Bewusstsein klar sein, was da passiert. Es wird dazu angehalten, sich selbst das Maul zu verbieten, und dies nicht mit politischen, gesellschaftlichen, sondern moralischen Beweggründen. Nun ist es durchaus moralisch gerechtfertigt, mit Faschisten und Rechtsradikalen nicht gemeinsame Sache zu machen. Das Problem ist aber eben die gemeinsame Sache. Ist es schon gemeinsame Sache, wenn auf einer Demo wie der in Berlin vom 1. August Rechtsradikale auftauchen? Klarerweise ist deren Anwesenheit nicht erfreulich, aber es kann doch kein Grund sein, öffentliche Meinungsäußerungen aufzugeben und einzustellen, weil ein Faschist in der Nähe steht.

Machen wir an dieser Stelle als Einschub ein kleines Gedankenexperiment, nachdem ja nicht nur Faschisten, sondern auch Verschwörungstheoretiker mit den Kritikern der Regierungsmaßnahmen in einen Topf geworfen und diskreditiert werden. In absolut sauberer verschwörungstheoretischer Logik stelle ich die Frage: „Wer bezahlt die Faschisten und Nazis, damit sie sich immer dort einfinden, wo Skeptiker und Kritiker sich Gehör verschaffen wollen, und diese durch ihre Anwesenheit diskreditieren?“

Gut; ich will hier den Sarkasmusmodus wieder verlassen und nur auf meine politische und historische Erfahrung verweisen. Ich denke zurück an die 1980er Jahre mit ihren großen Kampagnen gegen Atomkraftwerke und Endlager in Deutschland, gegen Fließkraftwerke und Aufstauungen in der letzten freien Fließstrecke der Donau und deren Auwäldern in Österreich, an Demonstrationen gegen Schnellstraßen und für den Erhalt unversiegelter Natur an deren Stelle. Was hatten wir da nicht für Debatten und Streitereien über die Anwesenheit reaktionärer und rechtsradikaler Beteiligungen und deren Versuche, politisch zu dominieren bis in die sich gerade formierenden Grünen hinein, über den Opportunismus als kommunistisch sich bezeichnender Agitatoren und Führer gegenüber dem rechten Rand!

Der springende Punkt, wenn ich diese Situationen vergleiche, ist doch, dass damals niemand auch nur im Traum daran gedacht hätte, sich von diesen Bewegungen zu distanzieren, bloß weil rechtsradikale Umtriebe nicht ignoriert werden konnten. Warum sollen wir uns nun auf Zuruf der Großmütter anders verhalten?

Ich räume ein, dass in den 1980ern von einem rechtsradikalen backlash, der bis in die christlichsozialen und liberalen Parteien (von den sozialdemokratischen ganz zu schweigen) fühlbar ist, keine Rede sein konnte. Das heißt, dass ein rechtsradikaler Einfluss eher achselzuckend beantwortet wurde; auch wenn das so nicht ganz stimmte. Immerhin wurden bei der Konstituierung und Parteigründung der Grünen in Österreich mit den Rechten aus Heimat- und Lebensschutz auch gleichzeitig die urbanen Linken der Grünen Alternative mit entsorgt.

Wir stehen heute leider vor der Tatsache – wir hätten das in den 1980ern, geschweige denn in den 1970ern nie für möglich gehalten – einer ideologischen gesellschaftsfähigen rechten, ja rechtsradikalen Rückkehr. Es ist also eine Aufgabe der Stunde, und da ist den Großmüttern durchaus beizupflichten, sich mit dem öffentlichen Auftreten der Faschisten auseinanderzusetzen. Nur bin ich – anders als die Omas gegen Rechts – der Ansicht, dass wir mit Gralshütertum nicht weiterkommen. In diesem Zusammenhang müssen wir uns klarerweise über den Begriff des Antifaschismus verständigen, wenn wir ihn ins politische Treffen führen wollen.

In Österreich und Deutschland wurde Antifaschismus nicht zuletzt unter dem Einfluss der Besatzungsmächte nach 1945 zu einer Art von Staatsdoktrin, zusammen übrigens mit einem sehr erkünstelten Nationalismus – sowohl für Deutschland als auch für Österreich wurde ein Deutschnationalismus in der Tradition der bürgerlichen Revolution von 1848 zum verminten (und verbotenen) Gelände. Das mag diskutierbar sein und ist nicht ganz unsympathisch; Nationalismus hatte sich auf die Nachkriegsverfassung zu beziehen und auf kulturelle (Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven) oder sportliche (Fußball-WM 1954 und Toni Sailer) Gegebenheiten.

Das Problem ist nun, dass dieser Antifaschismus keine Grundlage, keine Verankerung in den respektiven Staatsvölkern Österreichs und Deutschlands hat, bis auf den heutigen Tag. Eine politische Tradition des Kampfs, des politischen, militanten, militärischen Kampfs gegen Hitlers Deutschland, Mussolinis Italien, Francos Spanien, existiert schlicht nicht in Deutschland und Österreich – die Episode des Engagements in den Interbrigaden kann auch gelesen werden als die Aufgabe des Kampfs im eigenen Land nach der Niederlage gegen die eigenen Faschisten.

Jedenfalls ist Antifaschismus in unseren heutigen Tagen durch Gesetze definiert: durch legalistische Verbote von Nachfolgeorganisationen, von Symbolen und Devotionalien, von Literatur und Gesängen; nicht aber durch historische Erfahrung. Dieser Mangel ist es auch, der uns nun in unserer politischen Stellungnahme beschränkt. Noch immer gebunden an einen von den Siegern im Weltkrieg verordneten Antifaschismus, weil wir vor deren Sieg keinen genuinen Antifaschismus zuwege brachten, der uns den Sieg von USA und UdSSR erspart hätte, sind wir heute konfrontiert mit einem Erwachen der Faschisten in einem Umfeld, dem nichts entgegengesetzt wird außer der blanken Moral, der die konkrete militante Grundlage  – historisch oder aktuell – fehlt so wie die gelassene Bereitschaft, die eigenen Schritte selbst zu gehen und sie sich nicht vorschreiben zu lassen.